Zusammenfassung

Die Evangelisch-Augsburgische Kirche in Polen ist das Erbe einer jahrhundertealten religiösen Tradition, die im 16. Jh. begann. Die Lehren Martin Luthers und Johann Calvins nahmen in Polen zuerst die Gelehrten und die Bürger und anschließend die breite Masse der ländlichen Bevölkerung auf. Politische Bedeutung hatte die Tatsache, dass der polnische Adelsstand zum großen Teil zum evangelischen Glauben übertrat. 1573 wurden durch Beschluss der Warschauer Konföderation die Gleichberechtigung der Bekenntnisse und der Konfessionsfriede eingeführt. Eine intensive Entwicklung der polnischen Kultur fand in der Zeit der Reformation statt. Großer Komponist der Renaissance, Wacław aus Szamotuły, vertonte geistliche Lieder für unsere Kirche. Nachdem die Warschauer Konföderation in Polen mit dem Bann belegt worden war, begann die Zeit der Gegenreformation. Das Evangelische überdauerte jedoch trotz religiöser Verfolgungen. Nach den Teilungen Polens wanderten im 19. Jh. evangelische Handwerker und Bauern aus ganz Europa ein, was die Entwicklung der polnischen evangelischen Lebensweise und der heimischen Industrie anregte. Den Stabilisierungsprozess der Kirche unterbrach der Zweite Weltkrieg. Ca. 30% der polnischen Pfarrer kamen in Konzentrationslagern und Gefängnissen ums Leben. Infolge der Politik der Nachkriegszeit verringerte sich die Zahl der Gläubigen und Gemeinden. Dank der Anstrengungen der Gläubigen stabilisierte sich dennoch das Leben der Kirche und entwickelt sich beständig weiter.

Grundlegendes religiöses Prinzip des Luthertums ist, dass sich der Glaube ausschließlich auf das Fundament der Heiligen Schrift stützt. Alles, was damit unvereinbar ist, wird als Widerspruch zur apostolischen Tradition abgewiesen. Eine treue Auslegung der Bibel geben die Bekenntnisschriften, Kleiner Katechismus (1529), Großer Katechismus (1529), Augsburger Bekenntnis (1530), Apologie des Augsburger Bekenntnisses (1530/31), Schmalkaldische Artikel (1537), Traktat über die päpstliche Gewalt und Vorherrschaft (1537) und Konkordienformel (1577). Diese Schriften enthalten die Auslegung der Grundlagen des Luthertums, die man in Form folgender religiöser Prinzipien zusammenfassen kann:

– die Heilige Schrift allein (solum scriptura), die die Grundlage des Lebens eines Christen und der Kirche darstellt,

– das Göttliche Wort allein (solum verbum), das durch die Verkündigung der Kirche und in Gestalt der Sakramente (Taufe, Abendmahl) empfangen wird, durch die der Heilige Geist [die Menschen] erlöst,

– Jesus Christus allein (solus Christus), denn in Ihm erschien Gott dem Menschen in vollkommener und endgültiger Weise,

– die Gnade allein (sola gratia), dank derer Gott jeden Gläubigen rechtfertigt und erlöst,

– der Glaube allein (sola fide), der ein Geschenk Gottes und dessen Urheber der Heilige Geist ist.

Einen besonderen Platz in der Lehre der lutherischen Kirche nimmt das Zeugnis von Jesus Christus ein, der – als wahrer Gott und wahrer Mensch – der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen ist. Der einzige Weg zur Rettung und Erlösung des Menschen ist das Kreuz Jesu Christi. Die evangelische Theologie ist christologischen Charakters: Gott kann man nicht ohne Glauben an Christus gefallen; dieser Glaube überträgt sich auf die Erlösung. Diese lutherischen Glaubenswahrheiten bilden die „Lutherische Lehre von der Rechtfertigung”: Gottes Wort sichert uns zu, dass die Rechtfertigung jedem einzelnen Menschen aus göttlicher Gnade durch den Glauben an Jesus Christus geschenkt wird. Die Idee der Rechtfertigung war eine der größten Erkenntnisse des Reformators Martin Luther. Die lutherische Kirche erkennt nur zwei Sakramente an: die Taufe und das Abendmahl.

Ein sehr wesentlicher Bereich sind die äußeren Erscheinungsformen der evangelischen Identität. Zu ihnen gehören die Wertschätzung der Arbeit, Verantwortung und Bildung. Der Gläubige evangelischen Bekenntnisses, der gemäß dem Erbe der Reformation leben will, muss nicht nur fromm, sondern auch vernünftig leben, denn dies verlangt Gott von ihm. Sein Leben verläuft zugleich in zwei Sphären, der religiösen und der weltlichen, da er als Mensch gleichzeitig zwei Ordnungen angehört, der Ordnung der Erlösung und der weltlichen Ordnung. Eine solche Denkweise wirkt sich positiv auf die Entwicklung der Kultur und der Zivilisation aus, auf Bildung, Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft. Von großer Bedeutung ist, dass – nachdem die Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind, einige Jahrhunderte existierten – die evangelische Identität nichts in sich hat, was anderen Bekenntnissen oder Religionen gegenüber feindlich wäre.

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Die evangelische Gemeinde in Lublin besteht seit der Mitte des 16. Jh. Die Gottesdienste fanden damals in Privathäusern statt. 1627 wurde die Gemeinde nach den Unruhen im Zuge der Gegenreformation nach Piaski, ca. 20 km von Lublin entfernt, verlegt. Später wurde der Name dieses Ortes in Piaski Luterskie bzw. Wielkie umgewandelt. Das Städtchen befand sich in den Händen der Magnatengeschlechter Orzechowski und Suchodolski, die der Reformation wohlgesonnen gegenüberstanden. In der Nähe der Residenz von Adam Suchodolski – Anhänger des Calvinismus und der Socinus Lehre – erhielt die evangelisch-reformierte Gemeinde eine Holzkirche. Aufgrund des Beschlusses der Bełżycer Synode im Jahre 1649 fanden in ihr nicht nur evangelisch-reformierte Gottesdienste statt, sondern auch die der evangelisch-augsburgischen Gemeinde. Ein Gotteshaus, das ausschließlich für sie selbst bestimmt war, erhielten die Lutheraner in Piaski im Jahr 1662. Einer der hervorragenden Geistlichen der Evangelisch-Augsburgischen Gemeinde in Piaski war Marcin Olaff († 1715).

1725 betraf die ortsansässigen evangelischen Gemeindeglieder die Einschränkung, die in dem Verbot bestand, öffentliche Gottesdienste mit Glockengeläute abzuhalten, sowie Renovierungsarbeiten an der Kirche durchzuführen. Sie blieb dennoch erhalten, weil ein Gesetz des polnischen Reichstags Sakralbauten, die früh genug errichtet worden waren, schützte.

1784 erhielten die Lubliner Christen evangelischen Bekenntnisses vom König Stanisław August Poniatowski das Privileg, eine Kirche in Lublin zu bauen. Sie entstand in der vorgeschriebenen Entfernung zu den damaligen katholischen Kirchen. Im Jahre 1787 wurde der Grundstein unter dem Altar gelegt. In ihm eingemauert sind vier Dokumente, darunter eine Abschrift des königlichen Privilegs. Die Glocken des Gotteshauses stifteten 1784 Paweł Stryjeński aus Stryjno mit seiner Frau Zofia geb. Suchodolska. Schon 1787 fanden die ersten Begräbnisse auf dem neben der Kirche gelegenen Friedhof statt.

Die evangelischen Gläubigen spielten während des Vierjährigen Reichstags in Warschau (1788–1792) eine wichtige Rolle in Lublin. Einer von ihnen, Krzysztof de Legert, war 1792 Vizepräsident der Stadt.
Im 19. und im 20. Jh. bis 1939 beherbergte die Kirche in Lublin sowohl evangelisch-augsburgische als auch reformierte Christen unter ihrem Dach.

1898 zählte die Lubliner Gemeinde ca. 6000 Gläubige und für kurze Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bereits 8857 Mitglieder. Während des Ersten Weltkriegs erlitt die Kirche große Schäden. Die Zahl der Gemeindeglieder verringerte sich auf 519 Personen. In der Zwischenkriegszeit erneuerte sich das Gemeindeleben so schnell, dass die Lubliner Gemeinde schon 1919 wieder 5051 Personen verzeichnete. Der langjährige Pfarrer Dr. Aleksander Schoeneich erhielt die Auszeichnung „Für den Kampf um die Polnische Schule”. Er starb 1939 nach einigen Jahrzehnten Gemeindearbeit kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.

1939 kam Bischof Juliusz Bursche, der Vorsteher der Evangelisch-Augsburgischen Kirche der Polnischen Republik, aus Warschau nach Lublin. Ungeachtet der Beeinflussungen des Ministeriums für Religiöse Bekenntnisse und Öffentliche Bildung entschied er sich dagegen, das Land zu verlassen. Am 3. Oktober wurde er auf dem Gebiet der Lubliner Gemeinde von der Gestapo wegen seiner früheren propolnischen Aktivitäten und seiner Einstellung gegen Hitler verhaftet. Er war Gefangener u.a. im Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg und starb 1942 im Polizeikrankenhaus in Berlin. Entgegen der damaligen offiziellen deutschen Zeugnisse und Dokumente weist vieles darauf hin, dass er durch die Nationalsozialisten ermordet wurde. Anfang 1940 in Lublin übernahm die Funktion des Pastors der aus Chełm zugezogene Pfarrer Gerhard Richter. Während des Krieges hing auf Initiative der Besatzungsmacht die Aufschrift Deutsche Evangelische Gemeinde (Deutsche Christen) an der Kirche.

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Die ersten polnischen evangelischen Gottesdienste nach dem Krieg hielt der von auswärts stammende Geistliche Ryszard Trenkler im Dezember 1944. Im Herbst 1945 wurde Waldemar Lucer, der aus dem Lager Dachau befreit worden war, Probst. Der Krieg und auch die schwere Jahre nach dem Krieg haben die Gemeinde fast zu Ende gebracht. Im Anfang der siebziger Jahre nahmen manchmal nur einige Personen im Gottesdienst teil, aber seit den achtzigen Jahren kehrte sich diese fallende Tendenz um. Ein großes Verdienst am Aufbau des Gemeindelebens nach dem Krieg hatte der Gemeinderat. Einen wichtigen Anteil am Prozess des Wiederauflebens der Lubliner Gemeinde, die heute fast 200 Gläubigen zählt, hatten alle folgende Pfarrer: Waldemar Lucer, Rudolf Mrowiec, Bogusław Wittenberg, Jan Hause, Jan Szklorz und Roman Pracki.

Gegenwärtig hat Pfarrer Dr. Dariusz Chwastek das Amt des Probstes inne. Eine rege Tätigkeit in der Gemeinde leitet die Ökumenische Kommission Christlicher Frauen. Von 1985 bis 2001 war Sylwia Irga (geb. Pajong, hervorragende Gemeindevor-
steherin), stets aktiv und sozial engagiert. In der Gemeinde ist außerdem eine Gruppe der Polnischen Evangelischen Gesellschaft aktiv, die wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Vorträge, sowie Konzerte organisiert. Diese erfreuen sich großer Beliebtheit. Der Vorsitzende dieser Lubliner Gesellschaft ist Dariusz Paszewski.
In der Kirche wurden und werden einzelne Konservierungsarbeiten durchgeführt. 2005 wurde auf dem Friedhof an der Lipowa Straße ein Kolumbarium errichtet, als Ort für die Urnen der Verstorbenen. Es wurde von der Architektin Jadwiga Jamiołkowska entworfen und ist der erste Bau dieser Art in der Lubliner Region.

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Die Lubliner evangelische Kirche wurde im klassizistischen Stil mit deutlichem Barockakzent nach den Plänen von dem Architekt Zilchert gebaut. Auf der Südseite der Kirche wurde ein Friedhof angelegt. Das in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kirche gelegene Pfarrhaus wurde 1784–1785 an dem Ort errichtet, an dem sich früher der Hof von Adam Łaskarzewski befand. Zu den Kirchengebäuden gehörten auch das heute nicht mehr existierende Krankenhaus sowie die Schule. Das älteste erhaltene Grabmal auf dem Friedhof an der Kirche stammt aus dem Jahre 1787. Die letzten Begräbnisse wurden dort 1831 vorgenommen; seitdem finden sie endgültig auf dem evangelischen Friedhof statt, der Teil des Friedhofs an der Lipowa Straße ist.

Die bescheidene Ausstattung des Kircheninnenraums wird vom frühbarocken Altar dominiert, der Ende des 18. Jh. aus der Gemeinde in Piaski nach Lublin versetzt wurde. Angefertigt wurde er von dem nicht näher bekannten Bildhauer Flagler. Aus Piaski wurde auch die Barockkanzel mitgebracht, die vermutlich aus der ersten Hälfte des 18. Jh. stammt. Im Zentrum des Altarraumes hängt ein unlängst renoviertes Bild, das ca. 1628 gemalt wurde.

Der evangelische Friedhof an der Lipowa Straße besteht seit 1826. Auf der Südseite grenzt an ihn der katholische Friedhof, auf der Westseite der orthodoxe Friedhof, der um 1840 angelegt wurde. Ab Mitte des 19. Jh. verbreitete sich der Brauch, die Grabstätten evangelisch-katholischer Ehepaare an die Grenze zwischen dem evangelischen und katholischen Teil zu legen. Auf dem evangelischen Friedhof befinden sich Gräber von Familien, die sich große Verdienste um die Stadt erworben hatten. Hervorzuheben ist das Marmorgrabmal des bekannten Industriellen und Philantropen Juliusz Vetter. Beachtenswert sind auch die Familiengräber der Lubliner Industriellenfamilie Plage und der bekannten Protestanten Semadeni.

Die Lubliner Protestanten spielten vom 18. bis 20. Jh. in der Geschichte der Stadt eine wesentliche Rolle. Im 18. Jh. gehörten sowohl Bürger der Stadt Lublin zur Gemeinde als auch zahlreiche Grundbesitzer. Unter den Bürgern Lublins waren hervorragende Kaufleute und Industrielle, darunter die Familien Vetter, Plage, Krausse und Hesse. Als polnische Patrioten nahmen die Protestanten aus Lublin an den nationalen Aufständen, dem Kościuszko-Aufstand, dem Novemberaufstand und dem Januaraufstand teil. Die vollständige Identifizierung der Protestanten mit dem Polentum drückte sich auch darin aus, dass nach einem Beschluss der Gemeindeversammlung am 27. März 1883 das Polnische als obligatorische Sprache während des Gottesdienstes und der Gebete in der Kirche eingeführt wurde.
In dieses Buch wurden die Lebensdaten verdienter Mitglieder der evangelisch-augsburgischen Gemeinde in Lublin aufgenommen: die Buchhändler Stanisław und Michał Arct (1818–1900 und 1840–1916), die Konditoren Semadeni, der Industrielle Ferdynand Braun, der Pastor Aleksander Schoeneich (1861–1939) sowie der Professor der Tiermedizin, Edmund Prost (*1921, ehemaliger Rektor der Landwirtschaftsakademie in Lublin, z.Zt. Präses der Lubliner Wissenschaftlichen Gesellschaft).

Vorgestellt werden auch eine Reihe Geistlicher der Gemeinde der Heiligen Dreieinigkeit in Lublin: Simon Pusch (Pfarrer von 1749–1776), Tobiasz Bauch (1777–1795), Jakub Glass (1795–1820), Jan Jerzy Karge (1821–1837), Karol Jozef Jonscher (1838– 1884), Edmund Schultz (1884–1888), Pfarrer Dr. Aleksander Schoeneich (1888–1939, gleichzeitig Vorsteher der Lubliner Diözese), Juliusz Deiter (Vikar von 1914–1915), Serwacy Albert Froelich (Pastor-Diakon ab 1933), Juliusz Bursche (8 September–3 Oktober 1939), Gerhard Richter (1939–22 Juli 1944), Waldemar Lucer (1945–1955), Rudolf Mrowiec (1955–1957), Bogusław Wittenberg (1957–1967), Jan Hause (1967–1976), Jan Szklorz (1976–1996), Roman Pracki (1996– 2004) und Probst Dr. Dariusz Chwastek, seit 2004 Pfarrer der Lubliner Gemeinde und der Gemeinde in Kuzawka.

Das Verzeichnis eines Teils der Inschriftentafeln, die sich im Kirchenraum befinden, ergänzt dieses Buch; die lateinischen, polnischen bzw. deutschen Texte wurden vollständig angegeben. Es handelt sich dabei z.B. um Gedenktafeln für Henryk Jan Krausse sowie die Pfarrer Simon Pusch, Tobiasz Bauch und Aleksander Schoeneich. Am Ende wird ein Verzeichnis der Archivquellen und Handschriften, die sich u.a. in Bibliotheken befinden, sowie der wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Abhandlungen aufgeführt.

Übersetzt von Silke Plate